Eigentlich hatte ich meine Anreise gut geplant. Via Paderborn flog ich zuerst nach Palma de Mallorca, von dort weiter nach Valencia. Bereits 90 Minuten verspätet, bestieg ich meinen Leihwagen. Bis zum Dinner in Dénia blieben mir noch über drei Stunden Zeit. Mehr als genug für die gut 100 Kilometer, sollte man meinen. Gut gelaunt und in Erwartung vieler spannender Köstlichkeiten düste ich bei 38 Grad Außentemperatur über die AP 7 weiter gen Süden. Bis auf einmal, auf halber Strecke, mit lautem Knall die Motorhaube aus der Verankerung gerissen wurde und zunächst gegen die Windschutzscheibe, dann auf das Dach des kleinen Autos und schließlich auf die Autobahn hinter mir schlug. Und meine Pläne mit eben diesem Knall platzen ließ. Denn ab jetzt galt es an der nächsten Nothaltebucht am Straßenrand zu warten. Zunächst auf die Kollegen der spanischen Automeisterei, die so freundlich waren, die verlorene Haube wieder einzusammeln. Dann auf einen Abschleppwagen, den Avis zum Ort des Geschehens schickte. Schließlich auf ein Taxi. Dann auf die sich elend langsam abspulenden Kilometer bis zum Zielort. Während dieser Zeit, zunehmend durstend und hungrig, konnte ich über Facebook und Instagram bereits verfolgen, wie die anderen Teilnehmer des Abends erst Fotos vom Champagner am Strand und schließlich auch von den ersten Gängen posteten… Eine Qual!
Nachdem ich um 22:00 Uhr, also knapp zwei Stunden verspätet, den Platz an meinen Tisch einnahmen, folgen noch 25 der insgesamt 30 Gänge. Und eines der inspirierendsten und aussergewöhnlichsten kulinarischen Erlebnisse der letzen Jahre.
Zwanzig Foodies aus aller Welt hatten sich an diesem Abend versammelt, für eine Werkschau der Entwicklung Quique Dacostas. Ein einzigartiges Dinner, organisiert für die Teilnehmer der am darauffolgenden Abend in Barcelona stattfindenden Verleihung der OAD Europe Awards. Es schaffte den Spagat von den Anfängen Quique Dacostas im El Pueblo, noch sehr stark von der spanischen Molekularküche der frühen 2000er Jahre geprägt, bis zur aktuellen, sehr modernen, streng lokalen und produktfokussierten Küche. Dabei folgten mehrfach Gänge mit den gleichen Produkten in unterschiedlicher Zubereitung. Sonst eine große Ausnahme, heute Teil des Konzeptes.
Statt kleiner Amouse und einem langsamen Herantasten an die „Essbare Landschaft der Costa Blanca“ (so die St. Pellegrino Liste, in der Quique in diesem Jahr auf Platz 41 geführt wird) starte ich unvermittelt mit einem ersten Fischgang, dem Auftakt des dritten von insgesamt sechs Akten. Überraschend intensives Aroma und tolle Schärfe. Crunch, Frische und leichte fruchtige Säure bei der Coca of Tomatoes. Gegessen wird mit den Händen oder einer kleinen Pinzette. Ich fühle mich angekommen.
In zügigem Tempo geht es weiter mit verschiedenen Tapas vom Fisch. Allesamt großartige Kompositionen mit hohem handwerklichen Geschick, zumeist auf einige wenige Produkte fokussiert. Dabei immer wieder kreativ und mit viel Aufwand und Liebe inszeniert. So ist das Tobacco Leaf natürlich kein echtes Tabakblatt, sondern eine Alge die schonend karamellisiert und in Form gebracht wurde. Eine spannende Überraschung ist auch der Lemon Fish. Eine ausgehöhlte Zitrone, unter deren Zitronenschaum sich perfekt gegarte kleine Stücke vom Fisch verbergen. Erneut mit einer überraschenden fordernden Schärfe, viel Säure und Fruchtigkeit. Toll!
Mit Gugenheim und der fritierten Auster folgen erstmals zwei Rezepte, die sich dem gleichen Protagonisten widmen. Ersteres datiert sogar zurück auf das Jahr 2002 und bezieht sich sowohl in der Optik, als auch in Geschmack und Textur auf das Guggenheim Museum in Bilbao. Ein leicht jodiger, metallischer Geschmack ummanteln die nur minimal angegrillte Auster. Demgegenüber ist das 2015er Pendant wesentlich komplexer, hat deutlich mehr Tiefe und durch die Kombination mit der an Krabbenchips erinnernden Unterlage auch mehr Crunch. Gleichzeitig aber auch nicht mehr diese präzise Klarheit. Ein spannender Vergleich.
Es sind diese seltenen, wunderbaren und kostbaren Momente, wenn ein Gericht es schafft, mich durch seinen Duft und seine Optik, die Textur und den Geschmack an einen anderen Ort zu transportieren. Natürlich steckt diese Transformation schon ganz bewusst im Namen – das es allerdings so gut funktioniert ist verrückt. Der Duft von Moos und Pilzen. Die sanfte Beschaffenheit des Waldbodens. Pilze. Ein Hauch von Trüffel. Aussergewöhnlich.
Ebenfalls ein Klassiker und Signature Dish des Hauses. Aber offen gesagt nicht wirklich für meinen Gaumen gemacht. Etwas zu cremig, zu süß, zu schwer.
Die Gamba roja ist vielleicht das typischste Produkt der ganzen Küste rund um Dénia. Bei Quique Dacosta findet sie ihren Weg auf den Tisch in einem roten Zellophanpäckchen: Ein Geschenk des Meeres. Die Gamba, so beschreibt es das aktuelle Buch von Quique, wird für wenige Sekunden in siedend heißem Meerwasser gekocht und zieht anschließend für 5 Minuten in dem mit viel Eis heruntergekühlten Wasser. Die ideale Serviertemperatur liegt bei 12 Grad. Ein sehr pures, intensives und süßes Aroma ist das Resultat dieser Prozedur.
Zwischen dem Delta des Ebro und der Albufera bei Valencia befinden sich die wichtigsten Flächen für den Reisanbau Spaniens. Arroz. Die Basis einer jeden Paella, die ebenfalls in der Region rund um Valencia ihre Heimat hat. Eben dieser Reise spielt die Hauptrolle in den folgenden zwei Gängen. Die Variation mit Erbsen und Rogen vom Tintenfisch ist nicht nur optisch ansprechend, sondern frisch, grün und jodig. Wesentlich schwerer und mit starkem Umami Klang ist das aktuelle Reisgericht, der Arroz de anguila (Aal).
Eine hauchdünne Pizza, Steinpilze, Trüffel und ein Hauch von Taube bildet den einzigen mehr oder weniger klassischen Fleischgang des Abends. Schwer und opulent, aber auch diesmal wieder ein Gericht voll intensiver Aromen. Wenngleich etwas schwierig in der Handhabung.
Die Henne mit den goldenen Eiern ist das erste von zwei Gerichten mit Ei, die den fünften Akt „Carne“ beschließen. Das Ei wird in einem dunklen, sehr kräftigen Fond mit starkem Kaffeearoma serviert und vereinigt sich bei der ersten Berührung zähflüssig mit eben diesem. Hier fehlt es mir etwas an geschmacklicher Varianz und Vielfalt. Vielleicht stellen sich aber auf Grund der Fülle und Vielzahl der Gericht erste Sättigungsgefühle ein. Nach der Foie Gras der zweite Teller, den ich nur halb angetastet zurückschicken muss.
Das zweite und somit aktuelle Gericht rund um das Ei, trägt zwar Namen und Optik des Produktes, ist aber wesentlich komplexer. So komplex, das ich noch lange nicht mit der Dekodierung dieses Tellers abgeschlossen habe. Das Ei steht hier sinnbildlich für die Geburt, den Anfang. Die Asche, die es umgibt, steht für das Ende. Theatralisch wird es in einem schwarzen Kasten serviert, der bei der Öffnung ein intensives Aroma von Rauch verströmt. Tatsächlich handelt es sich um kein echtes Ei, wenngleich der helle Dotter einem Entenei entstammt, gegart in einem Rauchöl. Das den Dotter ummantelnde Eiweiß ist schwarz, trägt ebenfalls schwere Raucharomen und zeugt von einem intensiven, schweren Fond, aus dem es gezogen wurde, vielleicht auch etwas Blut vom Geflügel. Ein verstörendes Gericht, gleichzeitig voller Poesie und Fragen. Es ist ein extrem intensiver, schwerer und fantastischer Abschluss der herzhaften Speisefolge. Technisch wie inhaltlich. Wow!
Die Desserts führen die Handschrift der Küche weiter fort. Die „verrückten Blumen“ und das „Moos“ sind ebenfalls technisch auf der Höhe des machbaren, zeugen von tollen Aromen und viel Finesse.
Das Dinner bei Quique Dacosta setzt Maßstäbe in vielerlei Hinsicht. Teilweise hätten die Portionen aufgrund der schieren Anzahl an Gängen etwas kleiner Ausfallen können, etwas länger hätten die Pausen dazwischen sein können. Auf der anderen Seite ist es 2:30 Uhr als wir vom Tisch aufstehen. Und uns bedanken. Bei Quique und dem Küchenteam für diesen umfassenden Einblick. Bei Didier, der als Maître einen kulinarisch anspruchsvollen Abend so herzlich, offen, witzig und freundschaftlich gestaltet hat. Ganz ohne Frage möchte ich Dénia bald wieder besuchen. Sei es für die Gambas rojas – oder eins der klassischen Menüs. Egal wie kompliziert die Anreise wieder wird, jetzt weiß ich sicher, das sie sich lohnt…